Nov 16 / Dr. Sophia Wilk-Vollmann

CHEMSEX - INTIMITÄT & RISIKO

Chemsex ist ein Phänomen, das in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Medizin, Psychologie und öffentlicher Gesundheit gerückt ist. Gemeint ist der gezielte Konsum psychoaktiver Substanzen im sexuellen Kontext, häufig zur Verstärkung von Nähe, Ausdauer oder Enthemmung. Besonders häufig tritt Chemsex in bestimmten sozialen Gruppen auf, vor allem unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM). Doch was medizinisch häufig als „Risikoverhalten“ beschrieben wird, hat auch soziale, kulturelle und emotionale Dimensionen, die in der Versorgungspraxis oft übersehen werden - entweder durch Unkenntnis oder Stigmatisierung. 

Die beim Chemsex am häufigsten verwendeten Substanzen sind Methamphetamin (Crystal Meth), GHB/GBL, Mephedron, Ketamin, Kokain und Ecstasy/MDMA. Viele dieser Stoffe wirken enthemmend, euphorisierend und stimulierend, was zu intensiveren, oft auch länger andauernden sexuellen Erlebnissen führt. In der Praxis geschieht der Konsum meist im Rahmen von Gruppentreffen oder über digitale Verabredungen, was chemsexbezogene Netzwerke in urbanen Räumen sichtbar macht.

Die Motive sind komplex: Für viele Teilnehmende geht es nicht allein um Rausch oder Sexualität, sondern auch um Verbundenheit, Selbstwert, Zugehörigkeit und Intimität. Bedürfnisse, die innerhalb marginalisierter Gruppen oft unter gesellschaftlichem Druck stehen.

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Medizinische und psychosoziale Aspekte

Medizinisch ist Chemsex mit einer Reihe von Risiken verbunden: Von akuten Intoxikationen über sexuell übertragbare Infektionen (STI) bis hin zu psychischen Belastungen wie Depression, Angst oder Kontrollverlust. Studien zeigen, dass etwa ein Fünftel der MSM in Europa in den letzten zwölf Monaten Chemsex praktiziert haben. Viele berichten von Ambivalenzen zwischen Lust und Belastung, zwischen Selbstbestimmung und Kontrollverlust.

Psychosozial ist Chemsex häufig eng mit Stigmatisierung, Einsamkeit und internalisierter Diskriminierung verbunden. Das Gefühl, Sexualität und Zugehörigkeit nur unter bestimmten Bedingungen „leben zu dürfen“, führt bei vielen zu einer emotionalen Gratwanderung. Gleichzeitig erschwert die gesellschaftliche Tabuisierung den offenen Umgang damit, auch in der ärztlichen Praxis.

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Sprache schafft Räume

Im medizinischen Alltag erleben viele Ärzt:innen, dass Patient:innen sich nicht trauen, über Chemsex zu sprechen, aus Angst vor Wertung oder Unverständnis. Dabei wäre genau das Gegenteil notwendig: Räume, in denen Fragen zu Substanzgebrauch, Sexualität und psychischem Wohlbefinden ohne Scham gestellt werden dürfen. Eine diskriminierungssensible Kommunikation bedeutet, nicht nur Symptome, sondern auch Kontexte zu sehen.


Chemsex ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck gesellschaftlicher und individueller Realitäten, in denen Sexualität, Identität und Selbstfürsorge ineinandergreifen.

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Warum Frauen andere Wege der Selbstregulation wählen

Ein zentraler Unterschied in der Prävalenz von Chemsex zwischen Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), und Frauen, insbesondere lesbischen oder queeren Frauen (WSW), liegt in den sozialen und sexuellen Strukturen, in denen Sexualität gelebt wird.

Während Chemsex bei MSM häufig Teil eines gemeinschaftlichen, digital vermittelten Netzwerks ist, mit festen Substanzmustern, Gruppentreffen und einer stark sexualisierten Partykultur, fehlen solche Strukturen weitgehend im lesbischen oder queeren weiblichen Kontext. Sexualität wird hier häufiger beziehungsorientiert und weniger leistungsbezogen erlebt, und Substanzkonsum erfüllt meist andere psychosoziale Funktionen: z. B. Stressabbau, Selbstregulation oder soziale Zugehörigkeit, jedoch selten zur gezielten Verstärkung sexueller Erlebnisse.

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Wie wir unterstützen können

Diese Unterschiede zeigen, dass Unterstützungsstrategien differenziert gedacht werden müssen. Für MSM, die Chemsex praktizieren, stehen Harm-Reduction-Angebote, niedrigschwellige Sucht- und Sexualberatungen sowie anonyme Online-Sprechstunden im Vordergrund. Für Frauen und queere Personen hingegen braucht es zugängliche Räume für psychische und sexuelle Gesundheit, die Themen wie Selbstbestimmung, Körpererleben und Beziehungsdynamik ansprechen, ohne sie zu pathologisieren.


Kurz gesagt: Wir brauchen keine einheitliche Präventionsbotschaft, sondern kontextsensible Strategien, die Lebensrealitäten anerkennen, nicht bewerten, und Menschen unabhängig von Geschlecht oder sexueller Identität in ihrer Selbstfürsorge stärken. Das bedeutet auch, dass wir uns als ärztliche Kolleg:innen mit den Lebensrealitäten unserer Patient:innen auseinandersetzen und subkulturelles Wissen erwerben müssen. 

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Literaturempfehlungen

1. Georgiadis N, Katsimpris A, Vatmanidou MA, et al.

Prevalence of Chemsex and Sexualized Drug Use Among Men Who Have Sex With Men: A Systematic Review and Meta-Analysis.

Drug and Alcohol Dependence. 2025;275:112800. doi:10.1016/j.drugalcdep.2025.112800


2. Coronado-Muñoz M, García-Cabrera E, Quintero-Flórez A, Román E, Vilches-Arenas Á.

Sexualized Drug Use and Chemsex Among Men Who Have Sex With Men in Europe: A Systematic Review and Meta-Analysis.

Journal of Clinical Medicine. 2024;13(6):1812. doi:10.3390/jcm13061812


3. Hibbert MP, Hillis A, Brett CE, Porcellato LA, Hope VD.

A Narrative Systematic Review of Sexualised Drug Use and Sexual Health Outcomes Among LGBT People.

The International Journal on Drug Policy. 2021;93:103187. doi:10.1016/j.drugpo.2021.103187


4. Bohn A, Sander D, Köhler T, et al.

Chemsex and Mental Health of Men Who Have Sex With Men in Germany.

Frontiers in Psychiatry. 2020;11:542301. doi:10.3389/fpsyt.2020.542301


5. Lawn W, Aldridge A, Xia R, Winstock AR.

Substance-Linked Sex in Heterosexual, Homosexual, and Bisexual Men and Women: An Online, Cross-Sectional “Global Drug Survey” Report.

The Journal of Sexual Medicine. 2019;16(5):721–732. doi:10.1016/j.jsxm.2019.02.018